Dr. Andreas Gabelmann, Kunsthistoriker, »Asphaltzeichnungen«, Radolfzell 2013

von Thomas Milz, erschienen am 17.7. 2017 in der Rems-Murr Rundschau

Die Waib­linger Kün­st­lerin Hilde­gard Esslinger ist in der Ausstel­lung »Die Lin­ie ist Gedanke« mit vier Werken vertreten.

Waib­lin­gen. Beim Kün­st­lerge­spräch zur aktuellen Ausstel­lung in der Galerie Stihl war am Woch­enende auch die Waib­lin­gerin Hilde­gard Esslinger zu Gast. »Mich fasziniert, dass die Lin­ie kein Ende hat«, sagte die Kün­st­lerin über ihre faszinieren­den Arbeit­en, in denen, so Galerielei­t­erin Silke Schuck, »Lin­ien mit For­men und Far­ben in einen fortwähren­den Dia­log treten, der immer wieder auch kon­tro­vers aus­ge­tra­gen wird«.
»Das gelbe Quadrat« nen­nt Hilde­gard Esslinger eines ihrer in der Ausstel­lung zu sehen­den Bilder. Mit diesem Titel nimmt sie, nicht ohne eine kleine Pro­voka­tion, Bezug auf das berühmte »Schwarze Quadrat« des Kasimir Male­witsch. Eine berühmte Serie von eini­gen Gemälden ab 1915, die von nichts anderem als ein­er sta­tisch schweben­den, schwarzen Fläche beherrscht werden.

Anders bei Hilde­gard Esslinger. Hier löst das quer ste­hende far­bige Viereck bei den es umgeben­den Lin­ien einige Unruhe aus. Es kommt zu ener­getis­chen Reak­tio­nen. Die Lin­ien scheinen auf der einen Seite auswe­ichende Kraft­felder zu bilden – oder bilden »erregte« quirlige Kringel. Dabei mag man auch die Assozi­a­tion haben, dass da ein Vorhang zur Seite gehoben wird und den Blick frei gibt auf ein Dahin­ter. Es ist bei Hilde­gard Esslinger indes – nur – der schwarze Krei­de­grund auf Kar­ton. Und doch scheint da licht­gelb eine lebendi­ge Lin­ien-Struk­tur über dem starr Boden­losen, Abgründigen.

Auss­chnitt aus dem Linienfluss

»Ich samm­le Lin­ien«, sagt die Kün­st­lerin. »Die Lin­ie fasziniert mich, man weiß nicht, wie lang sie ist.« Und tat­säch­lich bieten ihre Bilder nur momen­tane Auss­chnitte aus еіпеm großen Lin­ien­fluss, der von außer­halb der Bild­fläche kom­mend wie bei ein­er Momen­tauf­nahme im Rah­men geban­nt oder mate­ri­al­isiert wird, aber immer über ihn hinausgeht.
Die Unendlichkeit­sar­beit der Pene­lope kommt einem in den Sinn, die tagsüber, um sich der Εntschei­dun­gen des Lebens in Gestalt ihrer zudringlichen Freier zu entziehen, ihre Fäden, also Lin­ien webt, um sie nachts dann wieder – um Auf­schub zu gewin­nen – aufzulösen. Abstrak­tio­nen, die dur­chaus exis­ten­ziell gedeutet wer­den kön­nen, aber nicht müssen. Und doch, »es gibt Druck­wellen, Lichtwellen oder elek­tro­mag­netis­che Wellen, ich fange sie ein«, sagt Hilde­gard Esslinger. Das heisst, sie über­set­zt uns Unsicht­bares in Malerei.

Das Nichts als umtanzte Gestalt

So ist die 1939 in Danzig geborene Hilde­gard Esslinger dann doch auch eine Geschicht­en­erzäh­lerin. »In meinen Bildern inter­agieren die Lin­ien«, sagte sie beim Kün­st­lerge­spräch. »Die Lin­ien erleben etwas in den Bildern. Und dann gehen sie wieder raus.«
»Lin­ien umkreisen ein unsicht­bares Objekt« nen­nt sie ein anderes ihrer Bilder, auf dem sich weiße Lin­ien auf blauem Grund in der Mitte zu einem Spi­ral­wirbel bün­deln, der dort die Fläche ener­getisch in einen aufge­lade­nen Raum zu dehnen scheint. Die Lin­ien rhyth­misieren in den Arbeit­en Esslingers nicht nur Flächen, son­dern sug­gerieren auch – virtuell erscheinende – Raum­struk­turen. Sie umtanzen, kön­nte man sagen, das Nichts als aus­ges­parte Gestalt – die man dann doch zu fühlen meint.
»Ich kenne kaum jeman­den, der sich so lange mit der Lin­ie auseinan­derge­set­zt hat«, sagte Silke Schuck über Hilde­gard Esslinger, die nach einem Biolo­gi­es­tudi­um spät­berufen Malerei bei K.R.H. Son­der­borg in Stuttgart studierte. »Begeg­nung und Umkehr« heißt ein weit­eres ihrer Waib­linger Werke. Lin­ien sind zu vielem fähig.