Dr. Andreas Gabelmann, Kunsthistoriker, Radolfzell 2013
In Hildegard Esslingers Arbeiten ist die Linie Darstellungsmittel und Darstellungsthema zugleich. Die Linie emanzipiert sich als gestaltende Kraft, erobert sich den Bildraum und entfaltet dort ein furioses, dynamisch-rhythmisches Eigenleben. Durch die meist parallele Anordnung steigert Esslinger deren Wirksamkeit und lässt die Linienbänder in freie, gleichsam spielerische Interaktion treten zum neutralen Blattgrund, aber auch zu farbigen Strukturelementen. Die Linie durchströmt geradezu die Fläche und animiert unser Auge zu ständiger Bewegung.
In unruhig an- und abschwellenden Verläufen durchfluten die Linien die Bildfläche scheinbar ohne Anfang und Ende. Sie machen auch vor den Bildrändern nicht halt, quasi in freiem Lauf suchen sie ein imaginäres Ziel, schwingen aus, ziehen sich zusammen, winden sich, umkreisen etwas und wandern weiter zum nächsten Malkarton. Es entsteht eine fast tänzerisch leichte Choreografie, in deren Verlauf die Linie eine ins Endlose vorstellbare Raumausdehnung erfährt.
Zu den ungewöhnlichen Bilderfindungen gehört die Reihe der Asphaltzeichnungen, die 1994 einsetzt. In diesen temporären Zeichenaktionen tritt die Linie in Dialog mit flächigen Formstrukturen und leuchtenden Farbsignalen des öffentlichen Raums. Esslinger reagiert darin auf vorgefundene Markierungen, Rissbildungen, Punkte o. ä. auf Straßen und Plätzen. Mit parallel geführten Linienspuren, die durch unregelmäßige Abstände ein lebhaftes Pulsieren erzeugen, verbindet die Künstlerin verschiedene Stellen auf dem Bodenbelag, oder umkreist, umschreibt diese auch, so dass eine bildhafte Aussageform, eine Zeichnung entsteht, die dann mit dem Fotoapparat festgehalten wird.
Ihre Idee der »Asphaltzeichnungen« erklärt E. mit den Worten: »Linien schwirren überall im Stadtraum herum. Sie kommen von irgendwo her und ziehen irgendwo hin weiter. In meinen Bildern banne ich sie und biete ihnen ein Aktionsfeld.«